30.11.2006, 10:37
Gio schrieb:[Zu 95% gegen die Todesstrafe bedeutet]ins reine Deutsche gesprochen doch eigentlich „pro Todesstrafe“, oder?Ne ne ne, gionischer Winkeladvokat. :mrgreen: Wenn ein Auto noch zu 95% Benzin hat, fährt man ja auch nicht an die nächste Zapfsäule. Ins reine Deutsche bedeutet das, dass ich gegen die Todesstrafe bin. Und ich beziehe die Prozentangabe (die ja nur veranschaulichen soll) sehr wohl auf meine Standhaftigkeit in dieser Frage; und ich betone „meine“, denn diese ist eben nicht objektiv. Ich finde es absolut richtig, dass es in Deutschland keine Todesstrafe gibt und bin auch für deren Abschaffung in anderen Ländern. Nichtsdestotrotz gibt es wenige Fälle, in denen ich für sie plädieren bzw. ich sie als angemessene Strafe empfinden würde. Darin sind wir uns ja einig! Dein Beispiel zeigt es!
Gio schrieb:Bei dem Tod meines Kindes wäre ich noch saurer. Ich würde sogar eine Waffe in den Gerichtssaal nehmen und dessen Mörder erschießen.Demzufolge trägst auch Du in Dir den Gedanken, dass für ganz bestimmte Verbrechen der Tod des Täters eine angemessene Form der Vergeltung ist, richtig? Die Frage nach der Todesstrafe müsste als geteilt werden:
1. Bin ich persönlich (aus emotionalen Gründen) der Meinung, dass bestimmte Verbrechen mit dem Tod bestraft werden sollten? JA!
2. Bin ich der Meinung, dass eine juristische, objektive Instanz durch Tod strafen darf? NEIN!
Wenn ich es nicht falsch auslege, bringt Bangor das mit seiner Aussage ziemlich exakt auf den Punkt.
Bangor schrieb:Ich besitze ein Rechtsempfinden, welches sich nur allzuleicht von meiner Gefühlswelt ablenken lässt. Es ist daher subjektiv, was für ein gerechtes Urteil schädlich wäre.Weil man im Zweifelsfall möglicherweise für die Todesstrafe wäre, ist man vernünftigerweise grundsätzlich dagegen. Es ist menschlich, dass das persönliche Rechtsempfinden beeinflußbar ist und deswegen gibt es ja objektive Instanzen.
Und unter diesen zwei Aspekten passt auch „The Green Mile“ ins Raster. Es stimmt mit dem zweiten Punkt überein, weil es das Risiko der Hinrichtung von Unschuldigen thematisiert. Das hat freilich nichts mit der hinter der Todesstrafe liegenden Ethik zu tun; aber der Umstand, dass auch Unschuldige versehentlich hingerichtet werden könnten, scheint mir eines der geläufigsten (und auch schwerwiegendsten) Argumente gegen die Todesstrafe zu sein. (Auch innerhalb dieses Threads.)
Und „The Green Mile“ stimmt mit dem ersten Punkt überein, oder verurteilt jemand Coffeys Tat an dem wahren Mörder? Hat jemand während der Lektüre des Buches oder beim Sehen des Films gedacht: „Was tut der denn da? Das ist ja ethisch völlig unvertretbar! Coffey ist bei mir unten durch!“? Wahrscheinlich nicht und darin sehe ich einen deutlichen Beleg für den ersten Punkt.
Soweit sogut. Ich denke, wenn ich die bisherigen Beiträge richtig verstanden habe, haben wir an dieser Stelle einen Punkt der Übereinstimmung oder zumindest der (momentan?) größtmöglichen Annäherung erreicht. (Was war nochmal Suggestion?

Gio schrieb:Was definierst du als Gerechtigkeit? Können wir nicht grundlegend festhalten, dass das Leben in all seinen Facetten ungerecht ist?Gerechtigkeit würde ich als eine abstrakte menschliche Vorstellung eines metaphysischen Gleichgewichts definieren. Somit ist das Leben vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet ungerecht, an sich aber einfach wie es ist. Der versinnbildlichte Inbegriff der Gerechtigkeit ist wohl die Allegorie der Justitia. Mit ihren verbundenen Augen soll sie vollkommen neutral sein und die Waage im Gleichgewicht halten. Das ist aber ein unerreichbarer Idealtypus. Du sagst völlig richtig, dass wir einen Gerechtigkeitssinn haben, doch kommt dieser ja nicht von ungefähr sondern muss als Produkt von Erziehung und Gesellschaft angesehen werden. In der Regel wird sich der Gerechtigkeitssinn eines jeden weitesgehend innerhalb eines kulturell determinierten prototypischen Rahmens bewegen.
Gio schrieb:Jeder der sich anmaßt, zu bestrafen, „Leid“ zu verteilen, „Gerechtigkeit“ auf der Welt zu schaffen […] handelt nach seinen eigenen Überzeugungen von einer „übergeordneten Gerechtigkeit“ und diese entspricht nunmal nicht dem Lauf der Natur, sondern einer selbst aufgestellten Weltsystematik. […] Die persönlichen Vorstellungen davon, was eine gerechte STRAFE ist, hat sich absolut niemand herauszunehmen.Das ist das Musterbild, aber vollkommen unmöglich. Denn auch unsere staatlich eingesetzten Institutionen wollen schließlich Gerechtigkeit schaffen und handeln dabei nach einer selbst aufgestellten Weltsystematik. In diesem System ist Raubkopieren schwerwiegender als Schwarzfahren, und Mord schwerwiegender als Körperverletzung. Gibt es im Lauf der Natur etwas, dass dies belegt? Nein! Staatliche Institutionen handeln nicht nach „eigenen Überzeugungen“, aber nach Maßstäben, die irgendwann mehr oder weniger kollektiv (vom kulturellem Gerechtigkeitssinn ausgehend) willkürlich festgelegt wurden. Diese Maßstäbe sind die Maßstäbe einer Mehrheit, deswegen aber nicht weniger persönlich. (Aber, das meinst du dann wahrscheinlich eher, sie sind nicht emotional gefärbt.) Wenn sich niemand herausnehmen darf zu entscheiden, was eine gerechte Strafe ist, dann darf das auch eine staatliche Institution nicht, denn die setzt sich schließlich auch aus Menschen zusammen. Das ist ja der Punkt: Welche Strafen für welche Verbrechen vergeben werden, ist letztendlich willkürlich und nicht objektiv. Ein Strafmaß kann nicht objektiv sein. Mathematik ist objektiv. 2+2=4, daran kann nicht gerüttelt werden. Die Justiz versucht sich (vereinfacht ausgedrückt) dieser Objektivität durch ähnliche Formeln zu nähern: Tatbestand xy+sonstige Umstände (z.B. geistige Unzurechnungsfähigkeit)=Strafmaß z. Das ist nichts anderes als um Objektivität bemühte Willkür! Erinnern wir uns an Justitia: Liegt Mord in der einen Waagschale, dann muß auch in der anderen Waagschale Mord liegen um wieder ein Gleichgewicht zu erzielen. Also Auge um Auge, Zahn um Zahn. Aber das ist mit unserem Gerechtigkeitssinn nicht zu vereinbaren. Also müssen Äquivalente gefunden werden. Daher Vergewaltigung und Mord in der einen Waagschale, lebenslange Haft in der anderen. Ist die Waage nun im Gleichgewicht? Ich denke, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Deswegen sage ich, dass Justitia ein irrealer Idealtypus ist. Wir müssen uns mit Kompromissen zufrieden geben. Kurz gefasst: Nach deinem vorangestellten Zitat ist auch die staatliche Instanz theoretisch nicht berechtigt Urteile zu fällen. Aber ich denke, dass ich weiß was du meinst: nämlich die individuell-emotionale Gerechtigkeitsvorstellung, die sich über die institutionell geregelte hinwegsetzt, stimmts?
Gio schrieb:Strafen dienen EINZIG UND ALLEIN dem Zweck zu erziehen, NIEMALS, zu richten. Strafen machen den Menschen deutlich, dass die Konsequenz aus einer Tat so unangenehm ist, dass sie sie lieber nicht begehen.Ne, Gio. Da gehen wir nicht konform. Es wäre schön, wenns so wäre. Stephy hats in einem ihrer Beiträge gesagt.
stephy schrieb:zudem ist ja auch erwiesen, daß die todesstrafe keine abschreckende wirkung hat. Wenn schon die Todesstrafe nicht abschreckt, warum sollten andere („mildere“) Strafen abschrecken. Wer eine Straftat begeht, tut dies i.d.R. im Glauben ungeschoren davonzukommen oder die Konsequenzen zu tragen. Ich kaufe mir mein Straßenbahnticket nicht, weil ich Angst vor einem Bußgeld habe, sondern weil ich eine Dienstleistung in Anspruch nehme und deswegen auch dafür aufkommen muss. Mein Gerichtigkeitssinn und meine Vernunft bringen mich dazu, dies zu tun, weils einfach notwendig ist, damit das System funktioniert. Wenn mir jemandes Sachen gefallen, dann nehme ich mir diese nicht einfach, aber nicht etwa weil ich Angst vor eine Strafe habe, sondern weil mein Gerechtigkeitssinn dies als Option ablehnt. Strafen sollten wie von Dir beschrieben funktionieren, tun sie aber nicht; der menschliche Faktor steht dem entgegen.
Klar, wenn Strafen einzig und allein dem Zweck der Erziehung dienen sollen, dann ist die Todesstrafe kein adäquates Mittel. Dann muss ich mich aber auch fragen, ob lebenslange Haft ein solches ist. (Achtung, es folgt ein hinkendes Beispiel, dass aber nach. m.M. berechtigt ist.

Gio schrieb:Und man kann mir weißgott nicht erzählen, dass die Strafe, getötet zu werden,ein erzieherischer Auftrag ist, denn der Täter mag dann zwar Asche oder Sarginhalt sein, aber garantiert nicht gut erzogen.Eben, und in Analogie dazu müsste ich von lebenslanger Haft dasselbe sagen, denn der Täter mag dann zwar weggesperrt, aber garantiert nicht gut erzogen sein.
Gio schrieb:Natürlich darf man die Welt "gerechter" machen - indem man sie verbessert, indem man Leid lindert oder garnicht erst zulässt. Indem man Gutes belohnt.Was eine Verbesserung, was Leid und was Gutes ist, hängt alles von einer subjektiven Wertung ab und ist nicht im Lauf der Natur festgeschrieben. Das ist die selbstaufgestellte Weltsystematik aus der dirzufolge Fanatismus resultiert. Wir können es drehen und wenden wie wir wollen: Objektivität ist eine Illusion.
Gio schrieb:Vorsicht, jetzt begeben wir uns auf ganz dünnes Eis. Terroristen geht es nicht darum, anderen Menschen zu schaden? Da kann ich nicht zustimmen. Die haben wohl nur Spaß an pyrotechnischen Effekten? Religiöse Motivation und der Glaube, richtig zu handeln sind kein Argument. Auch Hitler und Co. handelten aus der Überzeugung heraus, das Richtige zu tun. Du kannst hier nicht mit zweierlei Maß messen. Ersetze die religiöse Motivation doch durch den Oberbegriff „Überzeugung“. Die einen handelten aus religiöser, die anderen aus ideologischer Überzeugung. Warum das anders gewertet werden sollte, ist mir nicht klar.Zitat: Nehmen wir weiter an, die Piloten seien hinterher gefangen genommen worden. Hätte sie es verdient am Leben zu bleiben. Glaubt jemand allen Ernstes, die hätten irgendwann Reue empfunden? Hätte Hitler nach zwanzig Jahren im Knast Reue empfunden?Das Beispiel halte ich für fehl am Platz. Hitler, Mao, Stalin... Okay. Dann weiß ich, worauf du hinauswillst, auch wenn wir geteilter Meinung wären. Aber die?
1. Ich glaube sehr wohl, dass sie Reue empfinden können
2. Ich finde durchaus, dass sie es verdient haben, am Leben zu bleiben (im Gegensatz zun Hilter & Co.)
Warum? Die Tat war religiös motiviert. Somit ging es ihnen nicht darum, anderen Menschen schaden zuzufügen. Sie dachten, sie würden richtig handeln.
Gio schrieb:Wer einen Glauben anerzogen bekommt, dem kann man ihn auch wieder aberziehen.Dem stimme ich zu, aber was wird an die entstehende Lehrstelle gesetzt? Eine andere Überzeugung, z.B. eine westlich geprägte. Warum sollten die denn aber richtiger sein? Genausogut könnten wir alle in zweihundert Jahren zum Islam (wie ihn dieTerroristen auslegen!) konvertiert sein und dann ist der 11. September ein Feiertag. Das ist ein ziemlich zynische Behauptung, aber es bringt auf den Punkt, was ich die ganze Zeit sage: Alles menschliche ist notwendigerweise subjektiv. Man müsste komplett tabula rasa machen und von vorne beginnen, was einer Festplattenformatierung äquivalent wäre. Jemanden seinem Glauben oder seine Überzeugungen abziehen, kommt doch im Prinzip dem Austauch eines Betriebsprogrammes gleich.
Die Sache, die am Anfang recht einfach schien, wird immer komplizierter je mehr man darüber grübelt. Das ist Philosophie. Philosophie beschäftigt sich mit Fragen, die es ohne sie nicht gäbe und die sie nicht beantworten darf (und kann), weil sie sich sonst selbst ihrer Existenzgrundlage berauben würde.

Gelöste King-Quiz Fragen: 38 (60 min)