Hallo King-Freunde,
seit mittlerweile 20 Jahren (als ich zum dritten Mal mit "Sie" durch war) lässt mich eine Interpretation des Buches nicht los. Bisher habe ich nirgendwo eine Diskussion in diese Richtung gelesen; sollten die Gedankengänge schon mal angedacht worden sein, bitte mitteilen.
Für mich ist Sie/Misery eine geniale Verarsche der Literaturkritik!
Ich persönlich wurde in der Oberstufe mit dem Thema im Fach Deutsch gequält und konnte mich damals nicht recht anfreunden.
Jahre später finde ich in "es" eine Diskussion über ein "sozio-kulturelles Statement", welches Bill Denbrough mit dem Kommentar: "Kann eine Geschichte nicht einfach eine Geschichte sein?" versieht, was mir Kings Verhältnis zur Literaturkritik verdeutlicht (Heyne, "es", S. 97).
Und nun schreibt Paul Sheldon eine Folge von Misery, in dem seine Hauptperson stirbt. Die Kritiker werden sich mit der Sprache, der Ausdrucksweise, der Wortwahl, der Dramatik, bla, bla, bla, auseinandergesetzt haben. Paul hat nun einen Unfall und muss den Roman fortführen.
King stülpt eine weitere Geschichte über die des Paul Sheldons. Damit werden alle Geschehnisse vor Pauls Unfall abgeschlossen. Der Wunsch Pauls, Misery zu beenden, wird damit unausweichlich definiert. Nicht nur die Tatsache des vorhandenen Romans mit Miserys tot schwarz auf weiss, sondern auch Pauls innerster Wunsch sind damit festgelegt, in Kings Welt gibt es an Paul keine Interpretationsmöglichkeit. In der Geschichte in der Geschichte gelingt es Paul, den Schluss des vorherigen Teils anders zu interpretieren um sich aus der misslichen Lage zu befreien. In der Welt des Paul Sheldons könnten nun die Kritiker einwenden, Paul hätte alles schon vorher so geplant und wollte sie nur blossstellen. In der Welt des Stephen King, also unserer Welt, geht das nicht mehr.
Er, Paul Sheldon selbst, muss im Nachhinein sein eigenes Werk umdeuten und führt damit alle Rezessionen der Kritiker ad absurdum.
In einigen Beiträgen hier im Forum wurden die Misery-Teile eher als uninteressant hingestellt, vielleicht sieht man die jetzt anders.
Der deutsche Titel "Sie" wird ja sicherlich auf Annie bezogen. Der Originaltitel bezieht sich m.E. eher auf die Hauptperson. Der Film geht leider nur am Rand auf Misery ein und lässt, durch Änderung des Drehbuches gegenüber des Romans, diese Schussfolgerung nicht zu. Die Uminterpretation kommt im Film überhaupt nicht vor - war sie nicht wichtig?
Sind meine Gedankengänge nachvollziebar?
Habe ich vielleicht "überinterpretiert"?
Jürgen