Lost Highway

Alles rund um Kino und TV

Moderator: Maik

Beitragvon susa » Mo 20.Feb.2006 21:57

Habs im "Die besten Filme"- Thread schon angerissen, jetzt kurz ausführlicher:

Ich halte David Lynch- unter Abstrichen- generell für einen durchaus begabten Regisseur.

Der Elefantenmensch ist ein grandioser Film, Blue Velvet interessant, Mulholland Drive auf nicht unspannende Weise irritierend, aber Lost Highway ist ein durchwegs unstimmiger, pseudotiefsinniger Film, der nur davon lebt das Leute sich hinsetzen und verzweifelt Interpretationsmöglichkeiten suchen. Der Plot ist- beim ersten Hinsehen- unsinnig, die Figuren- und das auch beim zweiten und dritten Mal sehen- schlecht gezeichnet und die Spähren, in die die Geschichte schließlich abtaucht, gewollt konstruiert und verwirrend.
Der Film ergibt keinen Sinn- anders als Mulholland Drive, den man zwar auch oft sehen muss, der sich dem Zuseher aber irgendwann erschließt (vielleicht auch jedem anders)- sondern bleibt die ganze Zeit so krampfhaft seltsam, im Vertrauen darauf das die Zuseher sich danach hinsetzen und bemüht nach Lösungsansätzen suchen werden, die den Film erst interessant machen.
Doch bisher ist mir keine Interpration untergekommen, die sich schlüssig in den FIlm einfügt, sondern eben nur diese verzweifelten Versuche einem so gewollt konstruiert verwirrenden Film einen tieferen Sinn zu geben- den der Film aber selber nicht hat.

Es ist so einfach einen Film zu drehen, der keine in sich geschlossene Geschichte erzählt und keinen Regeln folgen muss, und es ist deprimierend das ein solcher Film zu Kult erklärt wird. Das man diesen Film rational nicht erklären kann ist eine Sache, doch das man diesen Film gar nicht erklären kann und das er trotzdem, trotz all dieser offensichtlichen Mängel, zu etwas Besonderm erklärt wird nervt mich. Echt. :P Dann noch diese peinlichen, oberflächlichen Spiele mit Farben, die dem Film wohl einen intellektuellen Anstrich geben sollen...

Nein, ich mag den Film nicht. Nicht, weil er sich auf dem ersten Blick nicht erschließt, das tun auch Donnie Darko oder Mulholland Drive nicht, und beide Filme schätze ich mittlerweile, sondern weil er so gewollt tiefsinnig sein will, so provozierend nach Interpretationen schreit, das all das, was interessant sein könnte, unter all dem "gewollten" untergeht.

Wie auch immer, ich bin müde, vielleicht kann ich mich ein anderes mal schlüssiger ausdrücken. :P
susa
 

Beitragvon alacienputa » Di 21.Feb.2006 16:02

alacienputa
 

Beitragvon Gio » Di 21.Feb.2006 20:18

Gio
 

Beitragvon susa » Di 21.Feb.2006 22:22

susa
 

Beitragvon Meat » Fr 24.Feb.2006 12:27

Meat
 

Beitragvon Gio » So 05.Mär.2006 14:49

Meat hat es zusammenfassend auf den Punkt gebracht. Der Film hat keine realistische Auflösung, und es gibt auch keine „richtige“ Interpretation, die alles in einem Wort oder gradlinigem Verlauf beschreibt. Lynchs „Lost Highway“ befolgt keine Logik. Er ist, wie schon gesagt, surrealistisch. Er verstört und er bewegt, auch wenn man die Geschichte nicht verstehen kann. Er ist abstrakte Kunst. Lynch geht es nicht um eine gradlinige Geschichte, der man folgen kann; dass er in der Lage zu solchen ist, bewies er schon beim „der Elefantenmensch“ und dass diese - selbst auf eine äußerst ereignislose Handlung reduziert - großartig sein können, zeigte er bei „The Straight Story“.
In „Lost Highway“ versucht er, wie auch bei Mulholland Drive, sich von der Bedingung einer abgeschlossenen Geschichte loszusagen, und einem sinnlos erscheinenden Film Sinn zu geben. Denn Lost Highway begeistert. Lost Highway hinterlässt den Zuschauer mit einem Gefühl, etwas Rundes gesehen zu haben, ohne es sich erklären zu können.

Grund dafür gibt es genug. Zentral steht Lynchs Können in Bezug auf Atmosphäre und Situationsspannung. Dadurch ist man, selbst ohne den inhaltlichen Zusammenhang erfassen zu können, gefesselt. Lynch setzt starke Akzente auf seine Filmbilder. Eine Wohnung mit dem „wärmsten“ Licht (orange) ausgestattet, und den Wände mit der wärmsten Farbe bestrichen (rot), durch Schatten und fehlende Einrichtung so gespenstig, so kalt aussehen zu lassen, ist erstaunlich. Lynchs Farb- und Lichtwahl sind in keiner Szene Zufall. Trotz verhältnismäßig wenig Dialogen und lang gezogenen (aber nie langatmigen) Szenen, die jeden Moment auskosten, verfolgt der Zuschauer gefesselt Wanderungen durch das Dunkle oder das Entspannen auf einer Gartenliege. Der Soundtrack ist herrlich, Lou Reeds „Magic Moment“ zu Patricia Arquettes erstem Auftreten als Alice perfekt. Die Schauspieler überraschend, aber sehr gut besetzt; Pullman und Arquette spielen großartig und verkörpern alles, was es zu verkörpern gibt. Und die Feinfühligkeit Lynchs für subtilen Horror lässt dem Zuschauer auch beim dritten oder vierten Sehen des Films eine Gänsehaut bekommen.

Aber noch etwas ist wichtig für das Gefühl, einen tiefer liegenden Sinn nicht entdeckt zu haben: die DOCH vorhandene Logik. Lynch reiht nicht nur Bilder aneinander. Er reiht auch nicht nur Szenen aneinander. Und er verknüpft sie auch nicht nur in unterschiedliche Weise. Lost Highway erzählt eine Geschichte, und diese hält sich an eine Struktur. Wie Meat es mit Dali verglich. Für den Zuschauer mag es wirr erscheinen, aber trotzdem bewegt sich alles in einem zusammenhängenden Rahmen. Der Film stellt Rätsel, und er beantwortet sie. Er stellt eine unpassend wirkende Szene in den Raum, verknüpft sie aber passend mit einer in der Struktur integrierten. Im Übergang ist sie bedeutungslos und widerspricht dem gezeigten, im losgelösten Gesamten ergibt sie etwas Rundes.

Dieses „Runde“ ist nicht realistisch - aber das braucht es auch nicht sein. Das vorhandene System wurden schon unterschiedlich gedeutet. Lost Highway wurde mit einem Möbiusband verglichen, mit einem Kreis, der es ermöglicht, übergangslos von der äußeren Schicht in die innere und von der inneren in die äußere zu gelangen, völlig unabhängig davon, an welchem Punkt (bzw. welcher Minute) man beginnt.

Ich finde, man kann Lost Highway eher als eine mathematische Funktion beschreiben – und das äußerst gut.
Dazu komme ich aber später.

„Lost Highway“ ist in drei Abschnitte unterteilt, im ersten befinden wir uns bei Fred. Der Mystery Man schickt Kassetten mit Aufnahmen von seinem Hausinneren. Er erscheint Fred in Gestalt von seiner Frau Renee. Er zeigt sich ihm bei einer Party und meldet sich zur gleichen Zeit an seinem Haustelefon.
Fred verliert den Verstand. Wir bekommen noch mit, wie er im Dunkeln vor einem Spiegel steht… und am nächsten Morgen wieder zu sich findet, ein Video in der Hand, das seinen Mord an Renee zeigt. Er wird ins Gefängnis gesperrt.

Dieser Teil ist der mit Abstand am leichsteten zu deutende.
1. Die Polizisten, die nach dem Auftauchen der mysteriösen Kassetten gerufen worden sind, fragen Fred, ob er eine Kamera besitzt. Er verneint und erwiedert: „Ich erinnere mich an die Dinge lieber auf meine Weise, und nicht, wie sie passiert sind“. Die Aussage ist eindeutig. Wir verfolgen alles durch die Perspektive des Protagonisten - mal Fred, mal Pete. Es ist, als würde man ein Buch mit einem personalen Erzähler lesen. Somit sind wir auf das angewiesen, was Fred erlebt – und wir haben erfahren, dass Freds Erlebnisse nicht immer so sind, wie sie zu sein scheinen. Er erinnert sich an sie auf seine Art und Weise.
Das lässt natürlich den meisten Interpretationen freien Lauf. So gut wie jeder, der den Film sieht, kann dankbar darüber sein.
Das ganze kann man noch steigern, auch wenn es nicht nötig ist. Diese Feststellung reicht durchaus, ich fände es nur anders raffinierter: als Finte. Um genau zu sein, machen die Szenen mit Pete, oder die mit neutralen Beobachtern (Polizei, Gefängniswärter) Interpretationsprobleme. Vielleicht ist der Satz (neben Wahrheitsgehalt auf den Film bezogen) bittere Ironie, und in dem Zusammenhang zum Schmunzeln.
2. Der Mystery Man unterhält sich für einen kurzen Moment mit Fred auf der Party und lässt erste Interpretationen über ihn zu. „Wie kommen Sie in mein Haus?“ fragt Fred. „Sie haben mich eingeladen“, antwortet der Mystery Man. „Es ist nicht meine Art, zu Jemanden zu gehen, bei dem ich nicht willkommen bin“. Die Aussage ähnelt alten Gruselgeschichten. Öffne dich für das Böse, erst dann kannst du verführt werden. Teufel und Vampire betreten das Haus erst, wenn sie eingelassen werden. Fred hat dem Mystery Man also den Weg geöffnet. Steckt der Mystery Man in ihm selber? Ist er eine weitere Persönlichkeit? Hat Fred ihm den Zugang ermöglicht? Oder wurde er sogar gerufen? Darauf komme ich später noch einmal zu sprechen.
3. Der Mord: Fred und Renee schlafen miteinander, Fred kann sie nicht befriedigen. Er erzählt ihr von seinem Traum. Beim ersten Sehen des Films weiß man noch nicht, dass Renee ermordet wird. Deshalb fällt einem nichts auf; es ist eher die folgende Szene mit der blassen Gestalt im Bett, die Gänsehaut verursacht. Mit dem Vorwissen jedoch ist klar, was hier gezeigt wird – Fred hat den Mord an seiner Frau geträumt. Und zwar exakt so, wie er sich ereignen wird. Er erzählt ihr, dass er in dem Haus war und sie nicht finden konnte. „Fred“, hören wir Renee rufen. „Fred… where are you? “ Fred wandert weiter durch den dunklen Flur und erzählt: „Aber dann fand ich dich. Du lagst auf dem Bett. Aber das warst nicht du. Es sah aus wie du, aber das warst nicht du“. In seinem Traum sehen wir jedoch Renee, die im Bett liegt, und als die Kamera auf sie zufährt und Fred erzählt, sehen wir, dass sie die Arme vor ihr Gesicht reißt und zu schreien beginnt. Nun erinnern wir uns an die Nacht des Mordes. Fred verschwindet im Dunkeln, betrachtet sich im Spiegel. Renee steht auf und sucht ihn. Dabei ruft sie exakt die selben Sätze: „Fred! Fred… where are you?“ - der Dialog des Traums. Dann ist es dunkel, später ist sie tot. Fred hat sie also umgebracht, weil er jemanden gesehen hat, der nur so aussah wie sie. Und wir wissen auch, wen. Nach dem Fred von einer anderen Person in Renees Körper berichtet, sieht er die beschriebene Gestalt neben sich im Bett liegen. Den Mystery Man, wie dieser später selber auf der Party klar stellt: „Wir sind uns schon einmal begegnet“.

Fred kommt ins Gefängnis und der zweite Abschnitt des Films, der mit Pete, folgt. Ich fasse ihn nur kurz zusammen, ohne auf ihn einzugehen - erst, wenn man das Ende von Lost Highway weiß, kann man ihn richtig einordnen. Pete erwacht in Freds Gefängniszelle, wird entlassen und von Alice, einer blonden Schönheit mit Renees Gesicht, zu einem Mord verführt. Sie fahren zu der Hütte eines Hehlers, weil sie Geld brauchen.
Nun sind wir bei dem 3. Teil, Fred erscheint. Alice ist verschwunden, der Mystery Man statt ihrer tritt aus der Hütte. Fred fährt mit dem Auto davon.
Da Fred durch die Odyssee in Petes Körper nun über den Liebhaber seiner Frau (Mr. Eddy / Dick Laurent) und über den Ort (Hotel, Numemr 26) Bescheid weiß, versteckt er sich im Nebenzimmer. Als Renee verschwunden ist, entführt er Mr. Eddie und ermordet ihn mit Hilfe des Mystery Mans. Dann fährt er nach Hause und schließt den Kreislauf.
Auch wenn man den Part mit Pete auslässt, stellen sich einem mehrere Fragen. Wie kommt es, dass Renee wieder lebt? Und wieso sagt Fred am Ende die Sätze in die Sprechanlage, mit denen alles begonnen hat? Das passt nicht.
Ohne groß zu überlegen ist einem Klar, was passier sein muss: Es hat einen Zeitsprung gegeben. Einen sogar genau definierbaren. Fred erwachte einen Tag vor dem Zeitpunkt zu Beginn des Films. Renee steht mitten in der Nacht auf und verlässt Mr. Eddie – wir sehen noch, wie er auf die Uhr schaut, weil es so früh am Morgen ist. Sie hat ihren Mann betrogen und fährt nun rechtzeitig nach Hause. Fred existiert zwei Mal. Nach Mr. Eddies Ermordung fährt der Fred-des-dritten-Filmteils zu seinem Haus und spricht in die Anlage mit seinem anderen Ich.

Wie kam dieser Zeitsprung zustande? Der Gedanke an Pete liegt nahe.
Wir erinnern uns an das, was Fred im Gefängnis sah, bevor er sich verwandelte: Ein implodierendes Haus. Wir wissen auch, dass es das Haus des Hehlers ist. Aber genau genommen implodiert es nicht, sondern eine Explosion wird Rückwärts gespult. Lässt sich herrlich mit einer Fernbedienung nachvollziehen. Ich spreche Sinnbildlich, was bei diesem Film passend erscheint: Der Rücklauf beginnt mit einem explodierten Haus, wir befinden uns also am „Ende der Katastrophe“. Wir sehen, wie diese Explosion, also die Katastrophe, zeitlich rückwärts verläuft und a) bei dem Haus des Hehlers ankommt, b) wieder ganz ist/ aufgehoben wird. Nach dieser Vision erwacht Pete im Gefängnis, erlebt seine Abenteuer und gelangt – Loggisch- zum Haus des Hehlers. Er verwandelt sich zu Fred, aber nicht, ohne am Ende seines Filmabschnitts ebenfalls die Vision zu sehen, die diesmal beim Haus selber ankommt.
Pete ist, anders gesagt, ein Zeitraffer. Jemand, der während seiner Geschichte Fred zu einem vorherigen Zeitpunkt transportiert. Mag sich komisch anhören, aber unabhängig von Symboldeutung und eigener Interpretation ist klar: Im ersten Abschnitt des Films ermordet Fred seine Frau, im letzten erwacht er einen bestimmten Zeitraum vorher, und beides passiert gleichzeitig und hat Einfluss auf einander. Wir haben zwei sich überlagernde Freds zur selben Zeit.

Nun möchte ich zur mathematischen Darstellung zurückkehren. Ich denke selten beim Schauen eines Films an Mathe - in den meisten Fällen wäre dies ein äußerst negatives Zeichen für den Regisseur. Bei Lost Highway ist das anders. Ein bestimmtes Gebilde springt mir geradezu entgegen, anhand dessen man einem Außenstehenden den Film am schnellsten erklären kann.

Es geht um eine Gleichung wie diese hier:

r = (2 sin^2 (φ)-1) / sin^3 (φ)

Sie stellt eine Schleife dar. Man braucht sich einfach nur einen Graphen mit X- und Y-Achse vorzustellen, und eine Linie ziehen. Sie beginnt von unten links, geht durch den Nullpunkt, macht einen Kreis, trifft wieder den Nullpunkt (schließt sich dort also) und verläuft nach unten rechts.

Das sähe so aus:
http://fed.matheplanet.com/mprender.php ... id=1777110

Die X-Achse stellt die Zeit dar. Y beliebig… am leichtesten vorstellbar als eine gradlinig verlaufende Handlung.

Wie man aus der Mathematik weiß, kann eine Funktion nie zwei X-Werte haben – so wie auch niemand zweimal zur selben Zeit existiert. Diese Gleichung ist keine Funktion, sondern der Einfachheit halber eine Kurve... ich habe keine Ahnung, wie ich mir eine Schleifenfunktion bastel. Die Darstellung ändert das nicht. Letztendlich würde eine Funktion dreigeteilt sein, mit jeweiliger Begrenzung für für x- oder y-Werte. Der erste Abschnitt beginn unten links bis zur senkrechten Tangente. Eine senkrechte Tangente bedeutet eine senkrechte Steigung. Wir folgen der von unten ansteigenden Linie also bis sie (würde sie nicht weiterhin ihre Richtung ändern) senkrecht nach oben führen würde. Der 2. Abschnitt macht nun (für uns) eine Rückwärtsbewegung. Wir machen eine Kurve zurück bis zur zweiten, senkrechten Steigung, die nach unten verlaufen würde. Der 3. Abschnitt beginnt links oben, und führt, immer weniger steil, nach rechts unten.

So sieht letztendlich der Film aus. Auch er ist in drei Teile geteilt. Der erste Abschnitt ist also der erste Fred, der zweite ist Pete, der dritte ist der letzte Fred. Wir sehen, dass der erste Fred sich mit dem dritten Fred überlagert – wir haben zur selben Zeit zwei X-Werte. Wir wissen durch den Moment, in dem Fred durch die Außensprechanlage spricht, dass wir auch zwei Freds haben. Wir wissen also, dass zur selben Zeit zwei Stück existieren und plötzlich, würde man der X-Achse folgen, einer verschwindet - senkrechte Steigung. Wir wissen auch, dass in der Vergangenheit plötzlich einer existierte. Wie aus dem Nichts vor dem Autoscheinwerfer auftauchte, einen Tag vor dem Beginn des Films. Zwei Parallel laufende Handlungsstränge zur selben Zeit. Plötzlich vorhanden, plötzlich verschwunden. Wenn man sich den gesamten zweiten Abschnitt des Films/des Graphens weg denkt, sieht der Graph auf den Film übertragen logisch aus. Wir haben ein gewisses Intervall, in denen zwei Funktionen wie zwei Freds existieren und einen Punkt, an dem sie zusammentreffen.. Nur der Sprung zwischen Fred-am-Anfang und Fred-am-Ende ist nicht klar. Er findet aber statt, muss ja. Und das besondere, das erstaunliche an Lynchs Film ist hierbei, dass dies trotz einem vorwärtsschreiten passiert. Das ist genial.
Wir haben also keinen „Zeitsprung“. Wir heben nicht ab und setzen neu an. Wir gehen in keinem Moment des Films „Rückwärts“. Wir bewegen uns zeitlich gradlinig nach vorne, und kommen trotzdem an einem vorherigen Zeitpunkt an. Es gibt dafür nur ein bildliches Modell: Wir machen einen „Looping“, wir machen genau das, was der Graph darstellt. Wir gehen nie zurück, aber durch die nahe Kameraperspektive, durch die Fixierung auf das aktuelle Geschehen merkt man nicht, dass man rückwärts schreitet, dass man zwischendurch auf den Kopf gestellt wurde. Das auf dem-Kopf-stehen beginnt bei der senkrechten Tangente, bei dem damit verbundenen Funktionswechsel, bei dem Übergang von Fred zu Pete. Es ist wie bei einem Mann, der immer geradeaus zu gehen scheint, aber in der Vogelperspektive einen Kreis beschreitet.
Das ist, bildlich veranschaulicht, der Handlungsverlauf des Films. Wir verfolgen Freds Lebenslinie, ab einem gewissen Punkt - der Knotenpunkt, hier der Nullpunkt (o/o) – spricht jemand zu ihm durch die Sprechanlage, dann tauchen Videos auf, dann ermordet er seine Frau. Im Gefängnis erreichen wir den Punkt der senkrechten Tangente, der Wechsel zu Pete findet statt, wir schreiten Rückwärts, an der nächsten senkrechten Tangente existiert ein zweiter Fred, der wieder zeitlich vorwärts schreitet, zwischendurch auf sich selber trifft und dann „nach unten weiter“ läuft, während kurze Zeit lang noch ein anderer Fred existiert und (wir verfolgen die X-Achse) irgendwann verschwindet.

Damit sind natürlich noch nicht alle Fragen geklärt. Wieso kam es zu dem Austausch von Fred und Pete? Auch hierbei spielt sehr wahrscheinlich der Mystery Man eine Rolle. Wir wissen von Petes Eltern, dass in der Nacht, an der er verschwand und im Gefängnis aufwachte, etwas passiert sein muss. „Du kamst mit einem Mann“, sagten sie. „Wir kannten ihn nicht“. Welcher Mann gemeint ist, scheint eindeutig zu sein. Wir sehen des Weiteren eine Rückblende – Pete steht auf dem Grundstück seines Hauses und geht einige Schritte nach vorne, bis er aus der Kamera verschwindet. Sheila steht auf dem Rasen, reißt die Hand vor den Mund und schreit. Die Eltern kommen bestürzt herausgestürmt. Wir wissen, dass Petes Haus direkt an der Straße steht, und wir wissen durch Petes Vorwärtsbewegung, dass er in ihre Richtung schreitet. An den Reaktionen von Sheila und seiner Familie erkennen wir auch, dass etwas Schreckliches passieren muss, und dass es sich in den nächsten Sekunden abspielt. Nahe liegt, dass Pete stirbt. Und zwar nicht physikalisch, nicht mit seinem Körper sondern sinnbildlich. Der Mystery Man treibt ihn wahrscheinlich vor ein Auto. Vielleicht macht er auch was anderes, aber es würde auf das Selbe hinauslaufen. Durch den Tod findet der Austausch statt. Ich spreche direkt: In dem Moment, in dem das Auto Pete erfassen müsste, verschwindet er. Die Eltern wissen nicht, was passiert ist, seine Freundin weiß nicht, was passiert ist, die Polizei weiß nicht, was passiert ist. „Wir werden nie wieder über diese Nacht sprechen“, sagt der Vater mit zitternder Stimme. „Die Polizei hat angerufen und nachgefragt. Wir werden ihnen nichts sagen“. „Erinnerst Du dich an diesen Abend?“, fragt seine Freundin. Der Tod war schon immer mit dem Gedanken an Körpertausch, Seelenwechsel und Übergang verbunden. Für mich ergibt das eine Logik.

Nun zu den Frauen. Zu Renee und zu Alice, der schöne Blondine. Sie ist neben dem Mystery Man die wohl geheimnisvollste Person.
Renee existiert wahrscheinlich wirklich. Der Mystery Man benutzt sie, um Fred zu manipulieren, sie ist sein Ansatzpunkt.
Bei Alice wird es schwieriger. Renee war innerlich abgestumpft. Sie war ruhig, unergründlich, kalt. Alice ist das Gegenteil. Emotional, leidenschaftlich – und geheimnisvoll. „Wir haben ihn umgebracht“, sagt Pete nach dem nächsten Mord. „Du hast ihn umgebracht“, sagt Sie. „Ich will Dich“, sagt Pete, „Du wirst mich niemals bekommen“, sagt sie. „Wenn sie gesagt hat, sie wäre Alice, hat sie gelogen“, meint der Mystery Man. Was hat das zu bedeuten? Wir erinnern uns an das Bild, auf dem sie nur existierte, als Pete es betrachtet. Als Pete es sich einbildete? „Ich erinnere mich an die Dinge lieber auf meine Art“, sagte Fred. „nicht so, wie sie passiert sind.“ Ironisch, dass nicht er, sondern Pete derjenige ist, der eindeutig falsche Tatsachen sieht.
Es ist, als würde sie als eine „Schlüsselfigur“ existieren, in der vorhandenen Konstellation. Wir bedenken:
Der Liebhaber von Freds Frau Renee ist Mr. Eddie.
Der Liebhaber von Mr. Eddies Frau Alice ist Pete.
Wir sehen eine stets gleiche Dreierkonstellation mit gleichen Charakteren, nur um ihre jeweilige Position verschoben. Mal Liebhaber, mal Ehemann. Alice/Renee sind die Angelpunkte und führen, mal passiv, mal aktiv, zum Mord.
Renee existiert in Freds Welt. Anschließend vielleicht in Petes, weil sie in Freds Welt wesentlich war. Damit Pete nicht durchdreht – wir erinnern uns an sein verschwommenes Sichtfeld, an seine Kopfschmerzen. Das denke ich aber weniger. Vielleicht wurde sie von dem Mystery Man geschaffen oder ist der Mystery Man selber. Auf alle Fälle hat sie etwas mit ihm zu tun. Er manipuliert sie, er ruft sie als Vorstellung hervor, er stellt sie dar… Nach der Liebeszene mit Fred vor dem Autoscheinwerfer verschwindet sie in der Hütte und der Mystery Man tritt - als wäre er ihre Transformation - heraus. Und Alice zeigte dem Protagonisten die wahre Konstellation zu Mr. Eddie auf. Als wäre sie ein Schlüssel für Freds Rätsel.

Wenn man sich die ganze Interpretation/Deutung nun anschaut, stößt nur eine Sache negativ auf:
- Wir sind wieder in der Vergangenheit angelangt, als Fred erwacht, aber die Polizei verfolgt ihn immer noch. Das heißt, dass sie den Zeitschleife mitgemacht haben müsste. So wie Pete vorwärts schreitet und doch zurückfällt, tut das auch die Polizei. Wir hören zu Beginn des Films, als in Freds Sprechanlage die Sätze über Dick Laurents Tod gesprochen werden, Sirenen - die Polizei jagt Fred, aber nicht den im Haus, sondern den, der flieht. Weil die Polizisten im Auto keine Ahnung von dem Fred im Haus haben. So wie Fred existiert auch sie zweimal, und ihre „anderen Ichs“ werden später beginnen, Fred zu beschatten.
Diese Vorstellung mag verwirren. Wenn alles aus der Vergangenheit folgt, warum nicht der tote Andy (der auf der Party wieder lebt) und die getötete Renee? Nun, letztendlich folgen sie ja. Sie existieren schließlich nicht zwei Mal. Wenn der Rücklauf beendet ist und wir uns in der Vergangenheit befinden, leben diese „Anderen“, „Damaligen“ natürlich.

Für die Deutung des Mystery Mans gibt’s viele Möglichkeiten. Vielleicht braucht man ihn überhaupt nicht erklären, sondern einfach als gegeben akzeptieren. Man kann recht frei sagen, er wäre die dritte Persönlichkeit Freds oder der Teufel, das Böse. Aber es gibt es einen interessanten Gedanken für diese Figurder mir noch besser gefällt. Er lässt alles noch runder erscheinen.
LEIDER muss ich aber sagen, dass die Idee nicht von mir ist. Als ich mich mit Jemanden über Lost Highway unterhielt und ihm meine Ansätze mitteilte, erzählte mir dieser von etwas, dass er gelesen hatte. Dann machte es Klick.
„Vielleicht ist er der Teufel“, sagte ich oben, Er ist blass. Weiß geschminkt, fahl. Er hat einen beinahe kahlen Kopf. Nichts liegt näher als Mephisto. Lost Highway beinhaltet Ansatzpunkte des Faust-Stoffes. Ansatzpunkte, wohlgemerkt, aber das reicht. Mir wurde zwar nur und ausschließlich von einer Ähnlichkeit zu Faust I berichtet, aber es trifft meiner Meinung nach auch auf Faust II zu.
Und wenn man versucht, zu vergleichen, ergeben Alice’ Sätze Sinn. Die Wandlung zu ausgerechnet Pete ergibt Sinn. Die Aussagen des Mystery Man’s ergeben Sinn. Selbst die zweite Wandlung tut es.
Ich fass kurz (und nur, soweit es für Lost Highway interessant ist) den „Faust“ zusammen.
Faust ist ein unglücklicher Gelehrter. Er besitzt alles Wissen der Welt und ist doch nicht glücklich. Deshalb geht er eine Wette mit dem Teufel ein. Wenn Mephisto es schafft, ihn glücklich zu machen, wird Faust sterblich und seine Seele gehört ihm. Bis dahin wird Faust „verjüngt“. Vor der Verwandlung schaut er in einen Spiegel, in dem er eine Jungfrau entdeckt. Ich zitiere aus dem Internet:
Lass mich nur schnell noch in den Spiegel schauen!
Das Frauenbild war gar zu schön!
Mephisto: Nein! Nein! Du sollst das Muster aller Frauen
Nun bald leibhaftig vor dir sehen.

Dann begeht er, von Mephisto gelenkt, Mord und Raub, während der Verjüngungstrank wie ein Aphrodisiakum wirkt. Nachdem sein „neues Leben“ erschreckend verläuft (er den Bruder Gretchens umbrachte, den Tod seines ungeborenen Sohnes nicht vereitelte und Gretchen hingerichtet wird), findet abermals eine Verwandlung statt, Faust „erwacht“ ein weiteres Mal, indem er einen „Reinigungsschlaf“ gehalten hat. Mephisto gewinnt seine Wette am Ende des zweiten Teils, als Faust nun, von Mephisto getäuscht, zum Ausspruch „Verweile, Augenblick, du bist so schön“ verführt wird (frei zitiert). Es greifen nun zwar Gott und seine Engel ein, das ist hier aber unwichtig.
Wir kommen zu Lost Highway. Auch Fred ist unzufrieden. Er kann seine Freundin nicht befriedigen. Darin könnte man die Möglichkeit für einen Pakt mit dem Teufel sehen (-> „Sie haben mich eingeladen“). Fred schaut, bevor er den Mord begeht, in einen Spiegel. An das folgende erinnert er sich nicht. Er erwacht als der viel jüngere Pete. Die Frau, Alice als Verkörperung seiner Wünsche, ist dieses Mal an ihm interessiert. Die sexuelle Frustration spielt keine Rolle mehr, oft genug werden wir darauf hingewiesen („Der Typ bekommt mehr Muschis zu sehen als eine Klobrille“, Zitat des observierenden Polizisten). Alice verfallen begeht er einen Mord. Und er verwandelt sich wieder zurück, wacht abermals auf, beginnt wieder einen Neuanfang.
Nicht aber, ohne vorher, sinnbildlich, zu verlieren. Nicht, ohne Alice, einer vorgegaukelten Erscheinung des Mystery Mans, verzweifelt zu sagen: „Ich will dich. Ich will dich. Ich will dich“ Ein transformiertes „Verweile, Augenblick, du bist so schön“? Triumphierend sagt sie: „Du wirst mich niemals bekommen“.
Es ergeben sich nun auch weitere Interpretationsmöglichkeiten über die Motive des Mystery Mans. Neben Alice werden zwei Personen umgebracht: Andy und Mr. Eddie. Mister Eddie kennt er persönlich, siehe Telefonat mit Pete. Andy ist er auch bekannt, weil Andy auf Freds Frage auf der Party zum Mystery Man antworten kann. Beides sind „böse“ Menschen. Sinnbildlich haben sie ihre Seele dem Teufel verkauft. Dadurch ergäbe sich weiterhin die Möglichkeit, dass der Mystery Man nicht nur Fred als Ziel hatte, sondern auch ehemalige Kunden beseitigen wollte.

Nun ist nur die Verwandlung am Ende nicht klar. Man könnte 1000 Sachen vermuten, die im Ansatz passen können. Man braucht nur loszuspinnen. Gibt es eine weiteres „Erwachen“, weil auch das letzte zu einem Mord geführt hat? Und in direkten Bezug darauf: War Mr. Eddie die Probe, bei der Fred versagt hat? Hat er mit diesem freiwilligen Mord nun seine Seele verkauft, war das die Intention des Mystery Mans? Erscheint nun eine dritte, fremde Person am Steuer? Erscheint wieder Pete? Erscheint der Mystery Man?

Hab keine Ahnung. Die braucht man auch nicht. Lost Highway ist nicht in die kleinsten Details ausgearbeitet. Er hat, wie schon erwähnt, keine umfassende, runde Geschichte. Es ergeben sich nur Handlungverläufe und Zusammenhänge, die man dem Film nicht abstreiten kann. Lost Highway befolgt seine Regeln und lässt den Zuschauer einen geistigen Spagat machen, konfrontiert ihn mit zeitlichen Loopings, mit Personentausch, mit nicht existenten Figuren, mit Symbolik, mit Rätseln und und und. Trotzdem passt es als Ganzes. Und trotzdem ist eine übergreifende Logik vorhanden. Es ist unrealistisch, aber ergibt Sinn. So mag die Verwandlung am Ende keine Bedeutung haben… und genauso hat sie es vielleicht doch.

(Edit: Und ich würde es begrüßen, wenn man die Beiträge in einen Lost Highway-Thread verschiebt... - in "Twin Peaks" haben sie nichts zu suchen)
Gio
 

Beitragvon Meat » Mo 06.Mär.2006 21:05

Das ist tatsächlich ein heißer Anwärter auf den Titel "Längster Beitrag im Forum" :mrgreen:

Den Handlungsverlauf von Lost Highway anhand einer mathematischen Kurve nachzuvollziehen finde ich großartig. Voll allen weil das hier wirklich absolut passt, und präzise die Struktur widergibt.

Zum Thema wie der Mystery Man zu interpretieren ist will ich mich bewusst nicht äußern. Hier sollte sich jeder seine eigene Meinung bilden (am besten so profund wie Gio) und ich denke man kann das was in Lost Highway passiert leichter empfinden als in Worte fassen.

Jedenfalls hat mich die erste Szene des Mystery Man, als Fred ihn bei sich zu Hause anruft, absolut aus den Socken gerissen, weil der Film bis dahin in geregelten Bahnen verläuft, und dann plötzlich dieser surrealistische Paukenschlag kommt. Fast keiner der millionenschweren Hollywood Blockbuster schafft es mich einmal in zwei Stunden so zu begeistern wie Lynch mit dieser einen Szene.

Darum ist Lost Highway große Filmkunst, und (nur mal exemplarisch) Underworld Evolution ist es nicht.
Meat
 

Beitragvon Gio » Mi 08.Mär.2006 19:20

Gio
 

Beitragvon alacienputa » So 19.Mär.2006 23:35

alacienputa
 

Beitragvon Meat » Mo 20.Mär.2006 00:48

Meat
 

Beitragvon Gio » Di 21.Mär.2006 17:17

Gio
 


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