Das tut so weh
Schwarz, Drei, tot und Glas waren so tolle Bücher... SO toll. Ich las sie neulich noch einmal - und wurde wieder gefangen genommen. Besonders Glas, ich habe die Jugendgeschichte von Roland geliebt. Es war ur-romantisch, sowas von... schön. Damit mein ich nicht die Liebesgeschichte - wenn auch sie gut war - sondern die gesamte, romantische Atmosphäre. Fisch und Bär und Vogel und Hase... Danke-Sai, Ay. Die drei Jungen auf sich gestellt in dieser interessanten Stadt mit ihren starken Charakteren und ihren Floskeln und Redensarten. Cordelia, Rhea, Jonas. Und Cuthbert, ich habe ihn geliebt. Musste mehrmals laut auflachen beim Lesen. Vor allem aber faszinierte mich diese Mischung aus Mittelalter, Western und Fantasy. Ich fand die Jugendwelt Roland's so stark, dass ich sehnsüchtig hoffte, in Band fünf mehr über die Abenteuer der Jungs zu erfahren. Viel lieber sogar noch als über die aktuelle Geschichte.
Natürlich ist das ganze Individuell verschieden; für mich steigerte sich die Serie vom Dunklen Turm von Mal zu Mal. Schwarz war mir zu kalt, zu fern noch. Dann kamen Drei und Tot, und der Revolvermann mit seinen Gefährten bekam Profil. Die gesamte Geschichte bekam es. Außerdem nahm man eine Veränderung war, eine kleine nur, aber - und das war das besondere - nach und nach schien es so, als würde sich das Band um die Charaktere festigen. Als würde der unnahbare Roland seinen Charakter ändern, und zwar NICHT unlogisch. Nach all den Seiten, als man zwischendurch schon meinte, die vier Leuts des Ka-tets müssten doch längst Freunde sein, wurde wieder und wieder klar, dass Roland ein eiskalter Killer ist, DER eiskalte Killer, und trotzdem ein Mensch. Der Zauber um die unnabahre Gestalt nahm nicht ab, weil sie trotzdem noch unnahbar war. Durch seine Kameraden war er nur nicht mehr mystisch.
King erschuf den ersten Teil in einer Schaffensperiode, den zweiten und dritten in einer zweiten, den vierten in einer dritten. Mann kann zwar klar zwischen Glas und den Büchern davor unterscheiden, trotzdem passen sie für mich gut zusammen.
King hat eine göttliche Welt geschaffen. Erschaffen. Eine so starke, so kraftvolle, so phantasievolle Welt mit Regeln und Strukturen, die alles behutsam umdecken und bereichern. Ich habe noch nie eine bessere und stärkere und romantischere und vielseitigere und schönere Saga gelesen als diese bis dahin. Diese Kraft, die die Welt des Dunklen Turms entwickelt, und die einen in den Bann zieht, diese wunderbare, eigene, innere Stärke, dieses potential, diese Gestalten, die einen in den Tagtraum begleiten, wenn man gerade das Buch nicht zur Hand hat, dieses... dieses GEFÜHL, als wäre man an etwas Wunderbaren, Einzigartigen beteiligt. An etwas, das ganz besonders ist. An etwas, das einen Lachen lässt, trauern lässt, schauern lässt. Das einen Streckenweise nicht mehr los lässt. Etwas, das den eigenen Adrinalinspiegel steigert, nur durchs lesen. Etwas, das berührt.
Und dann...
Dann schleicht sich etwas Schreckliches ein, etwas Gemeines, und zerstört das Wunder systematisch. Einfach so. Und dieses etwas ist ausgerechnet Stephen King selber.
Nicht, das King sich hinsetzt und "alle sind tot, haha, Witz" schreibt. Das würde nicht wirklich die Sage zerstören. Die alte Geschichten würden trotzdem so, wie sie sind, in erinnerung behalten werden. Er zieht sie auch nicht ins lächerliche, und er tötet sie nicht einfach. Er richtet sie langsam zugrunde.
Glas las ich diesen Sonntag fertig. Etwa um Mitternacht legte ich es zur Seite, dachte eine Weile schwärmend nach und konnte nicht von Wolfsmond lassen. Es war spät und ich musste am nächsten Morgen zu meinem Praktikum, aber ich wollte weiterlesen. Vor dem Einschlafen beendete ich das erste Kapitel, und obwohl mir die Dorfbewohner der Calla unsympathisch waren, gefiel mir die Situation. Wölfe. Hört sich gut an. Und unser Ka-tet ist auch schon in der Nähe, passt ja prima.
Am nächsten Tag las ich bis Seite 180. Keine Ahnung, wie, ich kam erst abends um Acht nach Hause und hatte auch noch anderes zu tun. Es kam mir vor als wäre ich auf Seite 75, aber trotzdem waren fast zweihundert Seiten hinter mir. Und ich war etwas verstimmt über einige "Änderungen", wie der Neunzehn, hatte aber noch Hoffnung. "Wird schon alles noch", dachte ich mir.
Wurde es aber nicht.
Im Gegenteil.
Jetzt bin ich schon bald auf Seite 600, und es ist nichts passiert. Die gesamte Handlung läßt sich schnell zusammenfassen, denn... genaugenommen sind Roland und Co. nur ins Dorf gekommen, haben erzählt und erzählt bekommen. Das ganze 900-Seiten-Buch handelt nur von dem Angriff der Wölfen.
Gefühlsmäßig kommt es mir vor wie Seite 200. Ist das nicht traurig? Eine Geschichte zu lesen, von der 2/3el Luft sind?
Ja, ist es. Toller Erzählstil, schön und gut, aber ob sich die 600 Seiten schnell lesen lassen, ist nicht wichtig. Die Qualität ist wichtig, und die fehlt. Die 2/3el Luft beinhalten nämlich noch anderes. Es wäre schön, wenn es nicht so wäre - dann ist die Saga eben etwas langatmig geworden. Aber statt dessen sind die zusätzlichen Seiten mit ihren zusätzlichen Erwähnungen zerstörend. Sie beinhalten irgendwelche beknackten Sprüche wie "Wasser, so Gott will", als gäbe es sie schon ewig und wurden nie gebraucht. Sie beinhalten einen Roland, so wie er nie war. Sie beinhalten ein dutzend Dorfbewohner, die alle nur Oberflächlich sind. Sie beinhalten Regeln über die Welt des Revolvermannes, die in den ganzen vier Werken vorher noch nie existiert haben. Und sie beinhaltet Schwachsinn wie die Zahl neunzehn.
King schrieb einmal bei "On Writing", dass man das Hawaiihemd, das im fünften Kapitel eine Rolle zu spielen beginnt, im zweiten schon einführen muss. Was macht er? Er führt das Hawaiihemd - seine Neunzehn - nicht im zweiten Kapitel ein, auch nicht im dritten oder vierten, er lässt die Einführung sogar im FÜNFTEN aus, in der sich schon alles darum dreht. Aua. AUA!
Wie kann er so etwas tun? Wie kann er beginnen, seine wundervolle Welt auf solche Weise zu zerstören? Wie kann er alles durch einen banalen Gedanken - von mir aus auch genial, ich weiß nicht, welchen Clou er sich da ausdenkt - über den Haufen werfen? Warum hatte die 19 nicht Zeit, JETZT erst eingeführt zu werden, wenn er sie unbedingt dabei haben will? Und warum muss er so tun, als wäre dieses gesamte Mysterium so spannend, dass man jedesmal eine "Neunzehn taDAMMM!!!! *trommelwirbel*"-Stimmung erzeugen muss, wenn sie erwähnt wird? - Was, nebenbei gesagt, ungefähr jede dritte Seite vorkommt. Bei jedem Namen, bei jeder Erwähnung, bei jeder Erzählung, bei jeder lustigen Bemerkung von Eddie. Das einzige, was dadurch ausgelöst wird, ist eine Neunzehnophobie.
Und Roland? Was ist aus dem geworden? King hat ihn im Keller eingesperrt und eine Kopie auf die Bühne gestellt. Der neue macht jetzt bei allen Erzählungen (allen!) die neue Roland-Bewegung. Sie ist ein Kreisender Finger, der bedeutet: "schneller". Oder manchmal auch "Weiter, Partner, setz dich auf deinen Gaul und reite". Soll wohl cool klingen. Oh King
Außerdem hat er Arthritis.
Das ist ansich nicht schlimm. Ich würde diesen Schachzug von King begrüße..., aber den alten Roland als einen verweichlichten, ungeduldigen, wild tanzenden, so veränderten und nun dauernd lachenden Mann DANN auch noch als Krüppel zu sehen (der alle Einwohner um Respekt bittet und ihnen achso gern Helfen will, weil das schon immer seine Pflicht als Revolvermann war) tut weh. Er macht sich sorgen um Jacks Jugend, versteht sich prima mit Eddie und lässt seine Gruppe ihre eigenen Entscheidungen treffen. Er scheint alle Sprachen des Dorfes zu sprechen und alle Floskeln zu kennen, egal wie weit hergeholt und künstlich konstruiert sie sind. Es soll sich anhören wie in Glas: ein eigenes Dorf mit eigenen Redensarten und eigenen Regeln. Nur kennt King die selber nicht. Er will nur wirken, als ob.
Roland spricht dauernd Lebensweisheiten - Wasser, so Gott will - an die er sein vorheriges Leben lang nie dachte. Nach mittlerweile VIER Büchern hätte man das mitbekommen müssen.
Und das schlimmste am Quartett: Es dreht sich im Kreis. Es werden Entscheidungen getroffen und doch nicht getroffen, völlig ohne Bedeutung. Er will niemanden über Susannahs schwangerschaft erzählen - Seine Gedanken dazu füllen mehrere Seiten. Kurz darauf erzählt er es Eddie. Jo. Die beiden sprechen darüber und kommen zu einen Entschluss. Dann kommt Jake dazu. Alles wird wieder umgeschmissen. Warum dann diese unnötigen vorherigen Seiten, die ein Problem konstruieren wollen, dass es garnicht gibt?
Und Jake hat anscheinend noch etwas gesehen, was mit Andy und Slightman zu tun hat, hält aber auch das geheim. Einfach so. Aha.
Als letztes gibt es noch die Dorfbewohner. Du meine Güte.
Warum sind sie so blas dargestellt? Es gibt fast KEINEN Charakter, der Tiefe hat. Nur Pere Callahan und der Gran Pere werden genauer beschrieben, und Pere ist ansich schon unsympathisch und langweilig.
Warum nur alle diese Änderung, dieses riesige Aufgebausche von Problemen, diese leeren Worthülsen? Wäre es nicht möglich gewesen, all das, was King sich neues ausdachte, JETZT erst einzuführen?
...es tut einfach weh. Ganz langsam und über hunderte von Seiten hinweg nimmt King alle Kraft aus dieser starken Geschichte und lässt sie nur noch ein blasses Abbild ihrer selbst darstellen.
Ich werde jetzt noch weiter lesen und hoffe inständig, dass sich der Rest des Buches noch rund gestaltet. Dass er Tiefe bekommt. Dass er runder wird. Dass er etwas anderes wird als ein Sammelsurium von allen Gedanken, die King zur Turmsaga durch den Kopf geflogen und gnadenlos auf Papier gehämmert worden sind. Hoffe es sehr.
Oh, zu dem Thread:
Hier kann sich über schmerzliche Veränderungen in der Turmsaga ausgelassen werden. Einfach einmal schmerzvoll "aua" schreien und eine kleine Träne vergießen. Über die andere Seite, die Vorteile der Entwicklung, kann man natürlich auch sprechen. Einseitig ist eh langweilig.
Bei allem, was über Glas hinausgeht, bitte mit Spoileranmerkung.