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Brokeback Mountain
#24
(Spoiler in meinem Beitrag)

Bei mir ist es nun schon etwas her, dass ich den Film sah, daher antworte ich etwas kürzer. Damals war es mir aufgrund des fehlenden Internetanschlusses nicht möglich.

Ich war sehr überrascht von Brokeback Mountain. In vielerlei Hinsicht. Man könnte das in Anbetracht meiner letztendlichen Gefühle dem Film gegenüber im Vergleich zu der vorherigen Erwartung sowohl negativ als auch positiv deuten - ich möchte eine Wertung an dieser Stelle auslassen. Auf alle Fälle fand ich ihn: sehr schön.

Was mich daran so überraschte, war nicht die Schönheit des Films selber (ich bin mit hohen Erwartungen ins Kino gegangen), sondern ihre Art.

Während der Film lief war ich noch etwas enttäuscht, weil viele Stellen meiner Meinung nach zu schnell übergangen wurden. Von Jack und Ennies bekam der Kinozuschauer kaum etwas mit, von deren Familienlieben - in raschen Sprüngen - viel zu viel. Ich wollte nicht die verschiedenen Ehefrauen von Ennies sehen. Ich wollte nicht sehen, wie Jack so desillusionierend-belanglos nach Mexiko fährt. Ich wollte nicht sehen, wie Ennis sich mit seiner Frau und Jack sich mit seinem Schwiegervater streiten. Mehr als die Hälfte des Films beobachtet man die beiden Schauspieler einsam und wortkarg - wie trostlos, traurig, wie ereignislos. Ein wirkliches Gespräch findet nie statt, die Worte, die sich Ennis und Jack in ihren wohl über zwanzig gemeinsamen Jahren zu sagen haben, die Gefühle, die sie miteinander Teilen, können wir uns nicht ansatzweise Vorstellen. Der Zuschauer bekommt keinen Einblick in die beiden Charaktere. Er weiß nicht, warum sich Ennis weigert, aus der Gesellschaft auszubrechen. Er weiß nicht, warum sich diese beiden unterschiedlichen (und auf Ennis bezogen nur bisexuellen) Menschen so lieben. Er weiß nicht einmal, warum sie miteinander schlafen. Er weiß nur, dass all das passiert. Dauernd lechzt er nach mehr. fragt sich, warum aus solch einem Thema mit diesen beiden PHÄNOMENALEN Hauptdarstellern nichts intensiveres geworden ist. Wortwörtlich: Intensiveres. Warum kann er nicht mitfühlen, wie es zum ersten Körperkontakt kommt, und sieht statt dessen eine ruppige A*schf*ckszene? Warum ist es ihm nicht möglich, die beiden Hauptcharaktere zu verstehen? Warum ist es ihm nicht möglich, die Distanz, die zu jeder Szene eingehalten wird, zu überschreiten?
Den Höhepunkt stellt der Tod Jacks dar. So kalt wird er erwähnt, so belanglos, so nebensächlich. Dieser Hauptcharakter wird übergangen, wie es wohl selten (oder noch nie) in der Filmgeschichte passierte. Die Tränen der einzig möglichen Identifikationsfigur halten sich so lange zurück, dass der Zuschauer aufschreien will. Und innerlich mag er brüllen: "dieses GROSSARTIGE Potential dieser TOLLEN Geschichte mit diesen WUNDERbaren Schauspielern, warum wurde es so vergeudet, warum wurde der tragischste Tod des Jahres so übergangen, das schönste Pärchen des Jahres aus solcher Ferne betrachtet, die intensivsten Szenen des Jahres so von tristen Familienszenen erschlagen?"

Und doch, trotz all diesen "Kritikpunkten", trotz all den Szenen, hat der Film etwas besonders und sehr, sehr schönes. Oder gerade dadurch. Während des Kinos fand ich Brokeback Mountain nur "gut", denn die Qualität (in mehreren Bereichen) und die unaufdringliche emotionale Berührung kann man ihm nicht absprechen. Nach dem Verlassen des Saales fand ich in noch etwas besser. Eine halbe Stunde später merkte ich erst, wie tief der Film nachwirkte, wie indirekt die wirklichen Charaktere vermittelt, wie clever jegliche Regiekonventionen und Geschichtsstrukturen überwunden wurden.
Das bedeutet nicht, dass die Überwindung besser ist - nicht umsonst hat sich die herkömmliche Struktur der Geschichtenerzählung so lange bewährt. Ich kann mir Brokeback Mountain durchaus anders inszeniert als tollen Film vorstellen. So, wie er gezeigt wurde, verliert er jedoch nicht seine Tiefe und Schönheit, er hat sie auf den zweiten Blick. Dem Zuschauer ist es nicht möglich, die Szenen, die er sehen will, zu sehen. Statt dessen lechzt er nach ihnen, wie Jack und Ennis es ihr Leben lang taten. Wir bekommen ebenso wenig gemeinsame Zeit mit den Beiden geliefert, wie diese sie haben.
Desweiteren haben wir nicht (wie erwartet) eine direkte Gesellschaftskritik. Nicht eine, die mit dem Zeigefinger winkt und die böse, homophobe Bedrohung anstinkert - im Gegenteil, ein aktiver Angriff von Außerhalb auf das Liebespaar findet so gut wie nie statt. Weder Jack, noch Ennis outen sich - und als Ennis von seiner Ehefrau ertappt wird, ist er es, der seine Homosexualität gewaltsam ablehnt, während sie all die Jahre nur darunter litt. Wir erfahren nie direkt einen äußeren Angriff, selbst die Ermordung Jacks wird durch dritte Hand übermittelt. Die Begründung von Ennis, um nicht zusammen zu ziehen, beruht auf Kindheitserinnerungen, eine sehr oberflächliche und küchenpsychologisch anmutende Szene, die auf den Zuschauer wie eine Ausrede, wie eine kurze Zusammenfassung der Angst wirkt. Die tatsächliche Angst, die Ennis mit sich herum trägt, wird ihm so wenig offenbart wie sein wirklicher Charakter, oder wie die homophobe Gesellschaft, oder wie der Grund für Jacks und Ennis Liebe.

Somit bleiben wir den beiden fern, in jeder Beziehung. Wir bleiben Jack fern, wie auch Ennis ihm fern bleibt, wir bleiben Ennis fern, wie auch Jack ihm fern bleibt, und das einzige, was wir mitfühlen können, lesen wir an den Gesichtern der beiden Schauspieler ab. Was bei der großartigen Leistung kein Problem darstell - und unter die Haut geht.

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In Bezug zur Frage nach dem Endsatz schließe ich mich jerseygirls Interpretation an, genauso hab ich es auch gedeutet. Der Gedanke an die Asche scheint mir viel zu fern und belanglos.
Natürlich ist Ennis niemand, der sein Leben nun anpacken und ein glücklicher, alter Einsiedler werden wird. Das wurde im Verlauf der Geschichte nur allzu deutlich. Aber trotzdem wurde nicht alles von seiner Persönlichkeit ausgelöscht, und in dem Maße, wie es ihm möglich ist, schwört er Jake, dieses "etwas" zu behalten. Die Liebe zu behalten, das bisschen Glück zu behalten, seinen Brokeback Mountain zu behalten. Sich nicht vollends zurück zu ziehen, nicht aufzugeben, zur Hochzeit seiner Tochter zu gehen... lässt sich leicht fortführen. Es geht letztendlich um das, was im Film die ganze Zeit angedeutet wurde - zu leben, und nicht einzugehen.
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